Leseprobe aus dem Roman ROCK MICH!
Rocky wacht auf, als wir die letzten Ausläufer von Rostock hinter uns lassen. Er klettert nach vorn auf den Beifahrersitz, eine Decke um die Schultern und gähnt ausgiebig. Ich erzähle ihm zum Wachwerden von einem Mädchen, das in irgendeinem Urlaub mit meinen Eltern an der Ostsee meine Freundin war, und mit dem ich nur über Pferde reden konnte. Sie hieß Carina und hatte dünne rote Haare und fast überhaupt keine Wimpern. Sie war Mitglied im Reitclub Rappenglück und trug die ganze Zeit über immer nur ihre Reitclubhosen. Auch wenn es total heiß war. Sie und ich hielten nach dem Urlaub noch ein halbes Jahr Briefkontakt, wir schrieben: „Hallo wie geht’s dir mir geht’s gut. Ich habe neue Namen gefunden: Blitz, Montana, Brauner, Indianer, Falko, Honnimun, Tomberlo. Welcher gefällt dir am besten? Mir gefällt Falko am besten. Hättest du lieber ein Pony oder einen vollblutigen Hengst? Tschüß.“ Rocky gähnt und kichert gleichzeitig und fragt, ob Carina ihre Hosen beim Baden auch angelassen hat. Sie hat sie wohl ausgezogen, denn ich erinnere mich daran, dass ihre Beine wirklich aussahen wie die von einem Schimmel, ganz weiß und dünn, an den Oberschenkel nicht dicker als an den Waden. „Der Kleine schläft sogar, wenn du durch die dicksten Schlaglöcher fährst, ist das normal?“, fragt Rocky. Er mag die Schaukelei. Wieso? Hast du Angst um deine Fliesen, oder was?“ „Eher um das Auto.“ Ich spüre das Streitpotential, das mal wieder in der Luft liegt. Aber die aufgehende Sonne färbt den Himmel in hundert Farben und am Horizont ist schon die spiegelglatte Ostsee zu sehen. Ich biege in den nächsten Weg ein, der von der Landstraße ab, zum Wasser führt. Auf einem Hügel, von dem aus man weit über den Darß sehen kann, halte ich an. Wir steigen aus und atmen die salzige Luft ein. Rocky zieht mich zu sich unter die Decke, die er noch immer um seine Schultern trägt und küsst mich, zieht meine Hose runter und drückt mich rücklings an den Bus. Durch die Blechwand hindurch höre ich Oskar weinen. „Der Kleine – ich muss hin.“ Doch Rocky legt mein Bein um seine Hüfte und mir bleibt der Atem weg. „Hast du nicht gesagt, er mag es geschaukelt zu werden?“ Zwei Minuten später ist Oskar tatsächlich wieder eingeschlafen.
Ich will Oskars ersten Blick aufs Meer fotografieren. Rocky muss mit ihm rückwärts die Dünen hinunter laufen, den Strand weit nach vorn, bis zu mir. Ich stehe dort, wo die Wellen ihre Schaumkronen dem Land aufsetzen, mit der Kamera im Anschlag. Wenn ich „Jetzt!“ sage, soll Rocky sich mit Oskar auf dem Arm umdrehen, und ich knipse ihn. „Das Meer!“ rufe ich. „Das ist das Meer, Oskar, pass auf – Jetzt!“ Rocky dreht sich um, aber Oskar guckt wie immer. Erst, als er eine Möwe sieht, erhellt sich sein Gesicht. Der Sand beeindruckt ihn mehr als das Wasser. Beim Picknick verteilt er ihn über das ganze Essen. Oskar klettert auf Rocky, der sich bäuchlings über den Sand schiebt, wie eine Robbe, die Hände in den Hosentaschen. Ich rufe kurz meine Mutter an, um zu erfahren, wie es meinem Vater geht. Er ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und werkelt schon wieder im Garten herum. „Er baut für Oskar einen Sandkasten“, sagt meine Mutter und ihr Tonfall verrät mir, dass sie damit nicht einverstanden ist. Sie gibt vor, sich um Papas Gesundheit zu sorgen, aber ich vermute, dass sie sich mehr Gedanken um die Zukunft ihres Gartens macht. Rocky rennt mit Oskar auf den Schultern über den Strand bis zur Bucht hinunter. Donnerkeile suchen. Ich sammle die Picknicksachen ein, wasche das Besteck im Meer ab und trage alles ins Auto. Rocky ist wirklich ein süßer Vater. Der Ausflug an die Ostsee tut uns allen gut. Ich werde ihm sagen, dass Oskar sein Sohn ist. Vielleicht lässt er sich dann schneller scheiden. Rocky und Antonia Zöllner – das hat Klang. Zum Zeichen meiner Versöhnungsbereitschaft überwinde ich meinen Ärger über die Tatsache, dass die Fliesen von Claudia sind und beklebe 48 davon mit Seesternen. Dieser Quatsch macht sogar Spaß! Ich sitze auf dem Bett, die Fliesen wie die Karten eines Memoryspiels vor mir ausgebreitet, und streng mich richtig an, die Dinger ordentlich zu bekleben. Rocky, Oskar und Antonia Zöllner – ich finde, das klingt großartig! Nach einer Stunde sehe ich durch die offene Tür Rocky mit drei Portionen Bockwurst und Cola den Trampelpfad, der von der Straße herauf führt, entlang stapfen. „Oskar – Hilfe! Mir rutscht alles aus den Händen!“, ruft er und prompt klatscht eine Ladung Senf auf seine Hose. Ich stehe auf, vorsichtig, damit die Fliesen nicht vom Bett kippen, und gehe ihm entgegen. „Oskar ist nicht hier“, sage ich. „Ihr wolltet doch zusammen Donnerkeile suchen.“ „Haben wir auch, aber Oskar hatte Hunger. Da hab ich ihn zum Auto geschickt und bin Bockwurst kaufen gegangen.“ Wir sehen uns an und die Möwen am Himmel verharren in ihrem Flügelschlag. Ich bin Bugs Bunny, der über das Dach eines Hochhauses hinaus läuft und erst in der Luft stehend begreift, dass es unter ihm nichts gibt, als hundert Meter Abgrund. Dann geht alles ganz schnell – Bugs Bunny stürzt ab und ich mit ihm. Rocky setzt sich gleichzeitig mit mir in Bewegung, wir rennen um den Bus herum, ohne Oskar zu finden. „Rocky, warum hast du ihn nicht mitgenommen?“, schreie ich. „Wieso hast du ihn allein gehen lassen? Er ist erst zwei Jahre alt! Vielleicht hat er irgendwas Tolles gesehen und ist zurück gelaufen!“ Rocky lässt endlich die Bockwürste fallen und rennt durch das Dünengras hinunter zur Bucht.
(…)