SCHATTENJAGD 

1

Eindeutig Ziegenkäse. Können wir dann langsam Schluss machen? Ich hab Hunger, ist schließlich meine Mittagspause.
“Gleich. Wonach riecht’s hier?”
“Getrocknete Tomaten und Essig …”
“Richtig. Und hier?”
“Total eklig. Nach was Fettigem, Ranzigem. Vielleicht in Salbei eingelegter Speck?”
“Sehe ich hier nicht, aber könnte vom Verkäufer kommen, der schwitzt ganz schön.”
“Koller, mir reicht’s wirklich!”
Seit einer halben Stunde führte mich dieser große blonde schwarzbärtige Mann nun schon humpelnd über den Wochenmarkt. Mit verbundenen Augen sollte ich alles aufzählen, was mir an diesem lauen Augusttag in die Nase stach. Sicher schüttelten die Leute den Kopf über uns. Aber das war ich gewöhnt. Koller zog diesen straffen Trainingsplan durch, um meinen Geruchssinn, der sich während der Schwangerschaft vor einem Jahr so empfindlich ausgeprägt hatte, zu erhalten und zu verfeinern. Ich hatte schon meine Ernährung umgestellt, vermied künstliche Aromen, Kaffee und Zucker, sollte meinen Körper von derlei Einflüssen fernhalten, um seine Reaktion auf Düfte ungefiltert wahrnehmen zu können – was Koller nicht davon abhielt, in meiner Gegenwart ungeniert Kuchen mit Zuckerguss und Kaffee in sich reinzuschaufeln.
Zu den täglichen Ernährungsgängeleien, Atemübungen und Schnuppertest an nummerierten Duftsticks gehörten dienstags, donnerstags und sonntags Riech-Challenges in freiem Gelände. Der Blindgang über den Wochenmarkt war noch die angenehmste Aufgabe, trotzdem fand ich, dass es für heute genug war.
“Na schön, dann schnüffeln Sie sich jetzt nur noch zum Schinkenstand durch, und dann essen wir was.”
“Nein”, sagte ich, wand meinen Arm aus Kollers Griff und nahm die Augenbinde ab. “Ich hole mir jetzt was. Und zwar was Vegetarisches.”
In einer halben Stunde ging mein Praktikum weiter – bei der Polizeidirektion Mitte, Abschnitt 57. Heute war Donnerstag der zweiten Woche, und die beiden Polizisten, die mich unter ihre Fittiche genommen hatten, würde ich ganz sicher nicht warten lassen. Mit ihnen Streife zu fahren war besser, als ich erwartet hatte, denn eigentlich wäre ich viel lieber bei der Mordkommission gelandet.
Aber da würde ich schon noch hinkommen, und zwar nicht nur für ein kurzes Praktikum. Im letzten Jahr hatte ich mein Abi nachgeholt, und wenn alles gut ging, würde ich im Oktober einen Studienplatz bekommen, der mich meinem Traum, Kriminalkommissarin zu werden, näher brachte.
Ich bestellte mir einen Wrap, und während der Verkäufer ihn mir einpackte, sagte ich Koller, dass ich nächsten Donnerstag keine Zeit fürs Training haben würde. “Da darf ich bei den K1-Leuten mitlaufen!”
K1, die Kriminalinspektion, auch Kriminaldauerdienst genannt, war einen Schritt näher an der Mordkommission dran. Dort arbeiteten Leute, die sich sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden lang mit Tatortarbeit beschäftigten. Sie waren das Bindeglied zwischen Funkstreife und Mordkommission. Der Donnerstag nächster Woche war in meinem Kalender rot eingekreist. “Vielleicht können wir unsere Treffen generell ausfallen lassen, solange das Praktikum läuft?”, fragte ich ganz beiläufig und so, als wäre es mir eben erst eingefallen. Dabei hatte ich mich bisher nur nicht getraut. Auch wenn man nicht viel von Kollers Gesicht sah, weil der Schnurrbart die Hälfte verdeckte – manchmal nahmen seine stahlgrauen Augen so ein düsteres Regen grau an, das mich fertigmachte.
“Ich meine werktags. Sind ja nur noch zwei Wochen”, schob ich direkt nach.
“Hm”, knurrte Koller, wackelte mit dem Bart und zog die Stirn kraus. War sein Blick dunkler geworden, oder lag das am Schatten, den die Wrap-Wagen-Markise auf sein Gesicht warf?
“Aber diesen Sonntag bleibt’s dabei?”, fragte er. “Ich habe schon einen festen Plan.”
“Klar, Sonntag passt”, sagte ich, erleichtert darüber, endlich mehr Zeit fürs Praktikum zu haben.
“Dann acht Uhr an der S-Bahn-Station Gesundbrunnen.” “Morgens?”
“Na, wenn Sie werktags streichen.”
An dieser Stelle holte ich tief Luft, verkniff mir jede Widerrede und biss in meinen Wrap.
Wann würde Koller sich endlich ein anderes Hobby suchen?
Nach seiner Suspendierung bestätigte ihm nun ein ärztliches Attest, dass er bis auf Weiteres dienstuntauglich war. Er nutzte die Zeit, sich in die Feinheiten der Sommelierkunst und der Parfümeure einzuarbeiten. Nur zwei von zahlreichen Berufszweigen, die auf gute Nasen angewiesen waren und viele Tricks und Kniffe kannten, diese zu trainieren. Das Schlüsselwort beim Geruchstraining war Regelmäßigkeit, sonst verlor sich die Differenzierungsfähigkeit schnell wieder. Es war ja sehr nett von Koller, dass er sich für mich so viel Zeit nahm und sogar Schnupperkurse finanzierte, aber mir war auch klar, dass seine Konzentration auf mich nur eine willkommene Ablenkung von seinen eigenen Problemen war. Ganz oben auf der Liste stand dort ein alter Fall, der ihn nicht losließ – und natürlich das Problem mit seinem Bein. Noch immer hatte er kein Protestsystem gefunden, mit dem er vernünftig laufen konnte, und wenn er mich mit verbundenen Augen herumführte, um irgendwelche Spezialgerüche zu erschnüffeln, dann sah ich zwar nicht, wie er die Zähne zusammenbiss, aber ich hörte es. Und ich wusste von dem Schmerztablettenmix, den er heimlich – aber nicht heimlich genug – in seinen Wasserglä- sern und Kaffeebechern auflöste.
Dabei war ich überzeugt davon, dass ich auch ohne den Geruchssinn eine gute Polizistin werden würde, und wollte das auch beweisen. Aber solange Kollers Humpelei nicht besser wurde, konnte er nicht in den Dienst zurückkehren. Ein Teufelskreis.
“Okay, acht Uhr dann, am Sonntag”, sagte ich.
Koller nickte mir zu, und der Schatten über seinen Augen verschwand.
***

2

Der Wochenmarkt am Kollwitz Platz lag einen gemütlichen Spaziergang entfernt vom Treffpunkt an der Nebenwache auf dem Alexanderplatz. Die Strecke führte an einem der selten
gewordenen Softeisläden vorbei, doch leider war ich dank Kollers Trainingseinheiten wieder einmal spät dran. Ich beeilte mich, die Treppen zur U-Bahn-Station am Senefelderplatz hinunterzukommen, wurde angerempelt, rempelte zurück und erwischte gerade noch die bereitstehende Bahn Richtung Alex.
In der U2 roch es normalerweise so, dass ich mir am liebsten die Nase zuhalten wollte. Der Geruch kam von niemand Bestimmtem, es war der muffige und abgestandene Gestank des Unterirdischen. Aber heute schien diesem trüben Dunst eine freundliche, zitrusfruchtige Note beigemischt zu sein.
Ich schaute mich um und sah den Kerl, der mich eben noch weg gerempelt hatte, in unmittelbarer Nähe sitzen und eine Mandarine schälen. Er trug ein schlichtes graues Leinenhemd zu einer olivfarbenen Armeehose, was sehr lässig wirkte, und sah auch sonst nicht schlecht aus. Er schien viel unter freiem Himmel unterwegs zu sein, wirkte wetter erprobt, so als würde ihm auch eine Wanderung im Regen wenig ausmachen. Seine Locken waren ähnlich dicht und schwarz wie Rickys, nur trug er sie länger und legte weniger Wert darauf, sie zu stylen.
Er bemerkte meinen Blick und erwiderte ihn mit blitzenden Augen. Dann lächelte er, wobei sich seine Mundwinkel kräuselten und eine Lücke zwischen den beiden Vorderzähnen zum Vorschein kam. Es war mir unmöglich, diesem Lächeln zu widerstehen.
Als er mir ein Stück seiner Mandarine reichte, nahm ich es an.
Dieser Duft! Wann hatte ich den das letzte Mal gerochen?

(…)

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