DIE SCHNÜFFLERIN
Kapitel 1
Warum eigentlich der?, fragte ich mich und musterte Ricky. Sein knallrotes Shirt, seine ungeduldig trommelnden Finger, seine Stirn, die von Haarlack glänzte. Ich wusste, dass seine Frisur nur aus der Entfernung sympathisch zerzaust wirkte, in Wirklichkeit war sie eine lackierte Matte. Als Ricky mich auf dem Rücksitz des Cabrios küsste und meine Hände sein Haar berührten, wollte ich meine Finger hineinbohren und alles durcheinander bringen, doch Ricky drehte sein Gesicht in meine Handfläche, und das war der Moment, ab dem ich den Dingen ihren Lauf ließ. Ich ließ Rickys Zunge meiner Lebenslinie folgen und allen anderen, die ihr in die Quere kamen. Lauschte dem Rauschen des Windes im Weizenfeld neben uns und sah an Rickys auf und ab federndem Kopf vorbei in den Himmel, der voller Sterne war. Voller funkelnder Sterne und blinkender Satelliten und Stern-schnuppen, die an einem Mond vorbeizischten, der riesig war. Manche Menschen fühlen sich klein und unbedeutend angesichts so eines Himmels, ich aber fühlte mich lebendig, gewollt, als wäre die ganze Welt mein Zuhause, so als wäre ich nicht allein.
Nun, fast genau sechs Wochen später, war es Ende September, nieselig und verhangen. In den Pfützen spiegelten sich betongraue Wolken. Bis heute war es mir gelungen, Ricky aus dem Weg zu gehen, doch die Dinge hatten sich geändert, und darum saßen wir jetzt hier in diesem netten, französischen Restaurant namens Oscars. Ricky in der Erwartung, dass es eine Fortsetzung des Sternschnuppenabends geben würde. Ich, weil ich festgestellt hatte, dass ich schwanger war. „Ist doch ganz schön hier“, sagte Ricky und hielt mir die Speisekarte hin, „goldener Einband und alles auf Französisch: Süpee gratinee … äh … was auch immer wir gerade bestellt haben, es ist jedenfalls das längste, was hier steht, und darauf kommt´s an.“ Er lachte, warf die Karte auf den Tisch und streckte sich. Andererseits konnte ich das Kind auch einfach abtreiben lassen. War ja meine Entscheidung. Auch wenn ich nicht immer die besten traf. Wie war es zum Beispiel möglich gewesen, bei Ricky im Auto zu landen? Er arbeitete am Gewinnspielstand eines Autohauses, direkt vor dem Center, in dem ich acht Stunden täglich Kaffeebecher füllte. Gleich bei unserer ersten Begegnung hatte er mich gefragt, ob meine Augen wirklich turmalingrün wären oder ob ich Kontaktlinsen tragen würde. Dann steckte er mir ein Los für eine Probefahrt zu und wann immer er mich sah, hakte er nach, wann ich es denn endlich einlösen würde. Ich lächelte dann schweigend, schäumte seinen Latte Macchiato auf und überließ ihm die Brezeln vom Vortag kostenlos. Am 12. August war dann verkaufsoffener Sonntag gewesen. Ich hatte bis 22 Uhr fast ununterbrochen Kakaoherzen auf Milchschaum gepudert. Alle Leute schienen süchtig nach Koffein, es gab praktisch keine Ruhepause. Ricky tauchte noch öfter auf als normalerweise, so oft, dass ich ihm nur noch koffeinfreien Kaffee verkaufte. Er wirkte an dem Tag aufgedreht, redete schneller als sonst und auch lauter, lachte an den unpassendsten Stellen. Er spielte den coolen Ricky auf eine so verzweifelte Art, dass er mir leidtat. Nachdem ich dann kurz vor Mitternacht aus dem Center gekommen war, hatte Ricky draußen gestanden, zufällig oder nicht, und zwar ganz still. Kein wippender Fuß, kein knackendes Fingergelenk, keine Augenbraue, die sich vielsagend hob. Er stand da, schaute mich an, neben der offenen Autotür, und da war mir, ehrlich gesagt, keine Ausrede mehr eingefallen. Wir düsten im silbergrauen Cabrio über die Stadtautobahn, tranken Dosensekt, der in ausklappbaren Haltern steckte, und als wir die letzten Lichter hinter uns gelassen hatten und auf einen Feldweg einbogen, öffnete Ricky das Verdeck und da war dann dieser Himmel über uns …
Ricky bestellte eine Flasche Champagner. „Ein Glas reicht!“, rief ich dem Kellner nach, der schon beim nächsten Tisch war, um einem älteren Herrn Rotwein nachzuschenken. „Komm schon, Ninja“, sagte Ricky. Er hatte mir diesen Spitznamen gegeben, weil er fand, dass ich ja die ganze Zeit kämpfen würde. Und zwar würde ich dagegen ankämpfen, mich in ihn, Ricky, zu verlieben. Was er natürlich für aussichtslos hielt. „Ich glaub, du hast eine ganz falsche Vorstellung von mir, kann das sein?“ Dabei wedelte er mit den Fingerspitzen durch die Flamme der Kerze auf dem Tisch zwischen uns. Sie rußte ziemlich stark und färbte seine Finger schwarz, die er gleich darauf am blütenweißen Tischtuch abwischte. „Welche denn?“, fragte ich aus reiner Neugier auf Rickys Selbstwahrnehmung. „Na ja – der Turbogang, den ich eingelegt hatte – zack ins Auto und ab ins Feld – ich meine, normalerweise werde ich nur bei Vollmond zum Werwolf …“ „Es war Vollmond.“ „Erwischt.“ Ricky fixierte mich mit ernstem Blick. „Was war eigentlich los mit dir in letzter Zeit? Hattest du ´ne Tarnkappe auf? Mittags im Coffeeshop war immer nur die Trulla mit dem abgefressenen Pony. Die meinte dann, du wärst gerade eben kurz weg. Hast du dich unterm Tresen versteckt oder was?“ Damit lag er goldrichtig. Und Ricky wusste ganz genau, dass die „Trulla“ Carmen hieß. Mit ihr war er auch schon Proberunden gefahren. Ich konnte nur hoffen, dass sie uns nicht über den Weg lief. Heute wäre eigentlich ihr freier Tag gewesen, aber schon auf der Rolltreppe war mir in unerträglicher Intensität das ganze Sortiment unserer Aromen in die Nase gestiegen, von Amaretto bis Zimt, sodass ich Carmen bitten musste, meine Schicht zu übernehmen. Nachdem ich dann den Schwangerschaftstest auf dem Centerklo minutenlang angestarrt hatte, verließ ich das Einkaufszentrum das erste Mal seit Wochen wieder durch den Vorderausgang, auf wackligen Beinen an Ricky vorbei. Das Laufen fühlte sich an, als müsste ich es erst neu lernen, als wäre mein Körper nur eine geliehene Hülle, ein Bewegungsapparat mit kaputter Lenkung. Mein Kopf nickte, als Ricky meinem Körper hinterherrief: „Heute Abend Futter fassen, im Oscars?“ Klar doch, bis dann. Ich hatte versucht, Fanny zu erreichen, aber wenn sie mit ihrer Theatergruppe auf Tournee war, ging sie selten ans Handy, ich schickte ihr nur eine Sprachnachricht.
Auf einer Bank im Humboldthain in der Nähe eines Spielplatzes war ich dann endlich zur Ruhe gekommen, hatte die Augen zugemacht und einen schwachen Ölgeruch wahrgenommen, der von den Schaukeln herüberwehte und mir auf seltsame Weise tröstlich erschien. Ich stellte mir einen aufmerksamen Vater vor, der die quietschenden Schaukeln und Wippen ölte und die tiefe Kuhle am Ende der Rutsche mit frischem Sand auffüllte. Einen Vater, wie ich ihn selbst nie gehabt hatte. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet bei dem Geruch von Schmieröl daran dachte. Seit ein paar Tagen ging das jetzt so – kaum nahm ich einen Geruch wahr, galoppierten die Gedanken mit ihm davon, in Bilder, Erinnerungen und Farben hinein, ganz von allein. Ich fühlte mich dabei wie ein Kutscher, dem die Pferde durchgehen und der nicht weiß, wohin die Reise führt. Hier im Restaurant roch es nach vielen verschiedenen Zutaten und Gewürzen, nach dem Zigarettenatem des vorbeieilenden Kellners, nach Rickys Haarlack, nach Schuhen, nach Dingen, die an Schuhen klebten. Vor allem aber roch es nach Ruß, dank Ricky, der nicht aufhörte zu kokeln – und Rußgeruch hatte ich noch nie vertragen. Fannys Theorie war, dass ich als kleines Kind einen Brand überlebt hatte und seitdem unbewusst mit Todesangst auf jede Art von Brandgeruch reagierte. Überprüfen ließ sich das nicht – meine Oma, bei der ich aufgewachsen war, konnte mir auf solche Fragen keine Antwort mehr geben. Jetzt ließ Ricky ein paar Haare in der Kerzenflamme schmelzen, was einen so widerlichen Gestank verbreitete, dass es mir schlagartig hochkam. Ich beeilte mich, auf die Toilette zu kommen und musste dabei das Tischtuch mitgerissen haben, denn die Kerze kippte um und – Poff! – raste eine Flamme über Rickys Stirn hinauf zum Lackpony. Ein Glück, dass der Kellner gerade mit dem Champagnereiskübel im Anmarsch war.
Über die Schüssel gebeugt betrachtete ich mein schwappendes Spiegelbild im Klowasser. Sah so mein Leben aus? Ich war jetzt dreiundzwanzig, wohnte bei Fanny zur Untermiete und jobbte mal hier, mal dort. Das Jahr im Centercafé war die längste Anstellung bis jetzt. Es hätte ewig so weitergehen können – ohne je irgendwohin zu führen. Ich hatte für nichts eine wirkliche Begabung oder, wie meine Oma gesagt hätte, für alles. Und nun war ich schwanger. Von einem Kerl, der seine Socken nicht wechselte. Ganz ehrlich – Ricky roch heute wie meine schlimmste Busfahrt. Damals hatte ich im heißesten Monat des Jahres in einem vollbesetzten Reisebus im Stau gestanden, mit ausgefallener Klimaanlage. Die Leute schmolzen dahin wie Butter in der Pfanne – und zogen sich die Schuhe aus. Dann war David Bowie in den Bus gestiegen und hatte Space Oddity gesungen. Als ich wieder zu mir gekommen war, standen wir mit geöffneten Türen an einer Raststätte, das Radio auf volle Lautstärke gedreht. Seitdem habe ich bei Begegnungen mit üblem Fußgeruch immer auch Major Tom im Ohr.
Die Toilettenspülung wurde leiser, hörte aber nicht auf, stetig lief Wasser nach. Ich sah zu, wie es in der Dunkelheit des Abflusses verschwand. Am liebsten hätte ich mich in diesem Augenblick auch auf dem Weg irgendwohin befunden. Auf dem Beifahrersitz, mit geschlossenen Augen und dem Vertrauen, dass der Sprit im Tank bis zum Ende der Fahrt reichen würde, zu einem Ort, an dem jemand mich erwartete. Seit dem Tod meiner Oma gab es so einen Ort für mich nicht mehr. Ich fragte mich, ob es Schicksal war oder einfach nur Dummheit, dass ich die Fehler meiner Mutter wiederholte. Sie war damals auch Anfang zwanzig gewesen, als sie mit mir schwanger geworden war – während ihrer ersten großen Reise nach dem Mauerfall. Einer langen Reise, noch auf dem Rückweg wurde ich geboren, zwei Monate zu früh. Ich blieb dann bei meiner Oma, während meine Mutter weiterzog. Inzwischen lebte sie in Australien. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Karte von ihr bekommen: Big Hugs & Kisses for You! From Jeany & Don. Keine Ahnung, wer Don war, aber Jeany war meine Mutter. Wie weit sie auch von mir entfernt sein mochte, immerhin hatte sie mich auf die Welt gebracht. Das war zum jetzigen Zeitpunkt mehr, als ich meinem Kind versprechen konnte.
Der rosafarbene Kloduftstein roch nach Himbeerbonbons. Ich würgte wieder. Und weit und breit war kein Klopapier in Sicht. Jemand klopfte an die Trennwand der Nebenkabine und eine besorgte Frauenstimme fragte: „Brauchen Sie Hilfe da drinnen? Soll ich einen Arzt rufen?“ Ich hätte gern laut JA! gerufen, stattdessen sagte ich: „Es war nur eine Probefahrt!“ Und dann heulte ich los. Die Frau auf der anderen Seite ließ sich davon nicht verjagen, sie wartete in aller Ruhe und reichte mir schließlich ein großes, kariertes Stofftaschentuch unter der Wand hindurch. „Nehmen Sie es ruhig, ich weiß, dass das Papier alle ist“, war alles, was sie noch sagte, bevor ich die Tür zum Restaurant hinter ihr zuklappen hörte. Ich nahm das Taschentuch, schluchzend, schniefend, und drückte es mir ans Gesicht. Es hatte einen intensiven Geruch, scharf und gleichzeitig belebend, würzig und irgendwie sommerlich leicht, mit einer leicht bitteren Note im Abgang. Ich sah eine Wiese vor mir, saftig grün, voll summender Insekten und blühender Gräser, mittendrin ein Fahrrad, das achtlos hingeworfen dalag. Und noch während ich darüber nachdachte, was das Rad dort zu suchen hatte, war meine Übelkeit verflogen. Ich bedauerte, mich für das Tuch nicht bedankt zu haben.
Auf dem Weg zurück zum Tisch kam ich an der Durchreiche vorbei, in der unser Essen schon bereitstand. Über die Teller hinweg schaute ich direkt in das gerötete Gesicht eines Mannes mit Plastikhaube auf dem Kopf. Er wirkte ertappt und versteckte etwas hinter seinem Rücken. Außer der Haube trug er eine karierte Schürze über weißen Klamotten und ich fragte mich, wobei man einen Koch in seiner Küche wohl ertappen könnte. Dabei, ein falsches Gewürz zu benutzen? Zu rauchen und in die Töpfe zu aschen? Ich nahm mir vor, die Suppe nur mit Vorsicht zu genießen.
(…)